23.09.2022 – Kategorie: Produktion

Wertschöpfungsketten: Sechs Vorschläge zur Abmilderung der Energiekrise

WertschöpfungskettenQuelle: chalabala – Adobe Stock

Deutschland und Europa steuern auf eine Rezession zu. Vergleichbare Situationen wurden in der Vergangenheit nur mithilfe einer starken Wirtschaft gemeistert. Doch die exorbitanten Energiepreise zwingen die Chemieindustrie, Produktionen zu drosseln. Erste Produktionsanlagen stehen bereits still, Wertschöpfungsketten beginnen zu reißen. Angesichts der dramatischen Entwicklungen in vielen Teilen der Branche wendet sich der Verband der Chemischen Industrie (VCI) mit Vorschlägen an die Politik, wie die Energiekrise bewältigt werden kann.

Sprunghaft gestiegene Gas- und Strompreise zwingen die Chemieindustrie, die Produktion bei besonders gas- sowie stromintensiven Prozessen zu drosseln. Erste Produktionsanlagen stehen bereits still. Insbesondere im Mittelstand entwickelt sich die Situation dramatisch. In der Chemie wird Gas – anders als in anderen Industrien – auch als Rohstoff verwendet und muss deshalb eine Entlastung bekommen. Basischemikalien (u. a. Methanol, Acetylen, Ammoniak) werden bereits knapp – das hat weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft, da viele Wertschöpfungsketten beginnen zu reißen:

  • Wegen der Drosselung der Ammoniakproduktion wird Harnstoff knapp. Es droht ein Versorgungsengpass bei AdBlue und damit ein Stillstand in der Logistik.
  • Salzsäure, ein „Abfallprodukt“ der Chlorchemie, wird knapp. Sie wird u. a. bei der Müllverbrennung benötigt, sodass ein Stillstand von Müllverbrennungsanlagen droht.
  • In der Pharmaindustrie werden Vorprodukte knapp (u. a. chemische Grundstoffe, Aluminium, Papier sowie Glas). Laut BPI planen einige Pharmaunternehmen, die Produktion bestimmter Erzeugnisse einzustellen (u. a. Betäubungsmittel oder Infusionslösungen). Das hätte negative Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung.

Beispiele wie diese verdeutlichen, dass dringend wirtschafts- und energiepolitisch gegengesteuert werden muss. Zur Verhinderung eines Flächenbrands in der deutschen Wirtschaft schlagen wir vor:

1. Alle verfügbaren Energieträger ans Netz: Gas aus der Merit Order verdrängen

Das schockartige Ereignis der Gasverknappung in Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine treibt die Preise für Strom sowie Gas auf Rekordhöhen. Dieser Effekt muss durch zusätzliches Angebot am Strom- und Gasmarkt eine Abmilderung bekommen.

  • Es wird nach wie vor viel zu viel Gas verstromt (ca. 4 TWh/Monat). Zugleich ist Gas im Stromsektor meist preissetzend.
  • Um das zu ändern, müssen alle verfügbaren Energieträger schnellstmöglich wieder ans Netz beziehungsweise weiter betrieben werden. Dazu gehören alle Erneuerbaren Energien, Kohlekraftwerke und die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke.
  • Außerdem müssen praktische Hürden für den kurzfristigen Fuel Switch sich beseitigen lassen.
  • Die Lösung der Energiekrise wird ohne zusätzliche Kohleverstromung kurzfristig nicht möglich sein. Ein kurzfristiges Überschreiten des nationalen CO₂-Budgets wird deshalb nicht zu vermeiden sein. Gleichwohl bleibt das klare Ziel der CO₂-Reduktion sowie der Transformation bestehen.

2. Hausaufgaben machen: Umsetzung der Entlastungspakete schnell konkretisieren

Bedürftige Privathaushalte bei steigenden Energiekosten zu unterstützen, ist wichtig und richtig. Gleichwohl müssen die beschlossenen Maßnahmen zügig um konkrete Unterstützung für industrielle Verbraucher ergänzt werden.

  • Die „Strompreisbremse für den Basisverbrauch“ muss konkretisiert werden. Auch höhere industrielle Verbräuche müssen hier eine Berücksichtigung finden.
  • Das angekündigte „Programm für Energieintensive Unternehmen“ muss schnell ausgestaltet werden.
  • Das „Energiekostendämpfungsprogramm“ muss verlängert, dessen Zuwendungskriterien müssen mittelstandsfreundlich ausgestaltet werden. Unternehmen in Chemieparks dürfen dabei keine Benachteiligung erfahren.

3. Gasumlage verschärft die aktuelle Situation: Kosten aus dem Bundeshaushalt decken

Die Umsetzung der Gasbeschaffungsumlage (24,19 Euro/MWh) stößt auf vielfältige praktische und rechtliche Hürden. Zusätzlich wirkt sie sich nicht nur auf den Gasmarkt aus, sondern treibt auch die ohnehin schon hohen Strompreise weiter in die Höhe. Damit sinkt die Akzeptanz der Umlage massiv und stellt insbesondere die Industrie vor politisch nicht zu verantwortende Mehrkosten. Die Gasbeschaffungsumlage führt neben weiteren Umlagen – Gasspeicherumlage, Konvertierungsumlage sowie Bilanzierungsumlage – zu Mehrkosten von insgesamt 4 Milliarden Euro pro Jahr allein für die chemische Industrie.

  • Deutschland steht vor gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, die keine Zeit für Experimente lassen. Die Webfehler bei der Unterstützung bedürftiger Gasversorger sollten deshalb zügig eine Korrektur erhalten. Die Gasbeschaffungsumlage muss daher dringend überdacht und aus dem Bundeshaushalt mitfinanziert werden.
  • In Not geratene, marktrelevante Gasversorger sollten zielgerichtet und temporär mit Staatsbeteiligungen eine Stütze bekommen (über §29 EnSiG). Dies kann die Gasbeschaffungsumlage erheblich senken und damit zu deren Akzeptanz beitragen.

4. Europa und der Green Deal brauchen jetzt stabile Energiemärkte

Die derzeitige Schieflage an den Energiemärkten ist eine europäische Herausforderung. Zu deren Stabilisierung und zum Erhalt der Integrationskraft des Binnenmarkts bedarf es daher gemeinsam abgestimmter Rahmenbedingungen.

  • Eine europäische Einigung über preisdämpfende Maßnahmen ist notwendig. Es muss gelingen, eine europäische Strompreisbremse zu konstruieren.
  • Die von der Bundesregierung im Koalitionsausschuss am 4.9.2022 angekündigten Maßnahmen müssen beihilferechtlich abgesichert sein.
  • Europäische Gesetzesinitiativen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in der Energiekrise zusätzlich belasten, sind zu verschieben. Beispiele dafür sind die Chemikalienstrategie (CSS), die Industrieemissionsrichtlinie (IED) und die geplanten CO₂ -Grenzausgleichsmaßnahmen (CBAM).

5. Leichtfertige Eingriffe in den Gas- und Strommarkt unterlassen

Die massiven Steigerungen der Energiekosten sind ein externer Schock und drohen die wirtschaftliche Basis in Europa zu zerstören. Das Strommarktdesign zählt zu den komplexesten Regulierungen überhaupt. Eingriffe sollten nur mit äußerster Vorsicht vorgenommen werden.

  • Erlösobergrenzen senken nicht den Strompreis. Falls Erlösobergrenzen für einzelne Energieträger dennoch in Frage kommen, sollten diese nur bei Energieträgern am Anfang der Merit Order mit niedrigen, variablen Kosten erfolgen. Kohleverstromung sollte hingegen nicht durch weitere Einschränkungen erschwert, sondern vielmehr eine Erleichterung erfahren.
  • Vorgesehene Abschöpfungen dieser Erlöse müssen allen Verbrauchern – auch der Industrie – zugutekommen und dürfen nicht nur zur Regulation privater Tarife eingesetzt werden.
  • Das Verweben des Strommarktdesigns mit dem Steuerrecht, wie es laut Koalitionsbeschluss vom 4.9.2022 zur „Abschöpfung von Zufallsgewinnen“ vorgesehen ist, ist inhaltlich und auch von der zeitlichen Umsetzungsperspektive her ungeeignet, um kurzfristig Entlastung im Gas- und Strommarkt zu schaffen. Deshalb lehnen wir diese Abgabe ab.

6. Wohlstand erhalten und Resilienz stärken

Explodierende Energiepreise, eine weltweit abgeschwächte Konjunktur und sinkende Kaufkraft durch die hohe Inflation: Deutschland steuert auf eine Rezession zu und reißt Europa mit sich. Vergleichbare Krisen der Vergangenheit ließen sich nur durch eine starke Wirtschaft bewältigen.

  • Die in den bisherigen drei Entlastungspaketen enthaltenen Maßnahmen sind nicht zukunftsweisend. Stattdessen setzen sie die industrielle Basis in Deutschland aufs Spiel.
  • Für die Wirtschaft ist die kurzfristige Stabilisierung der Gas- und Strommärkte existenziell. Sie muss jetzt entlastet werden. Finanzbedarf besteht vor allem bei der Nachbesserung der Gasbeschaffungsumlage in Form einer Haushaltsfinanzierung, bei der „Strompreisbremse“, beim „Energiekostendämpfungsprogramm“ sowie bei der Kompensation massiv steigender Netzentgelte.
  • Klar ist: Die unserer Gesellschaft als Kriegsfolge von Russland aufgezwungene Energiekrise erfordert temporär den Einsatz von Mitteln aus dem Bundeshaushalt. Das jetzt nicht zu tun, gefährdet unsere soziale Marktwirtschaft und Industriestruktur. Verlorene Struktur kommt nach der Krise nicht mehr zurück. Arbeitslosigkeit sowie Sozialtransfers müssten mit noch höheren Beträgen eine Finanzierung erhalten – ohne eine starke industrielle Basis ist das nicht zu stemmen.

Weitere Informationen finden Sie hier.

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