Model-Based Systems Engineering: Kerninstrument der künftigen Produktentwicklung

Model-Based Systems EngineeringQuelle: iStock 1367303257, Gorodenkoff

Entwicklungsprozesse werden immer komplexer. Um diese durchgängig digital abbilden zu können, setzen Unternehmen zunehmend auf das Model-Based Systems Engineering. Welche Vorteile bietet es? Und was ist bei der Implementierung zu beachten?

Die Herausforderungen, denen sich Unternehmen bei der Produktentwicklung gegenübersehen, haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das hat verschiedene Gründe. So ist die Komplexität von Produkten durch den starken Einzug von Elektronik und Softwareinhalten massiv gestiegen. Die zunehmende Vernetzung führt zu vielen versteckten Abhängigkeiten und erschwert die Nachverfolgbarkeit bei Produktdaten und Prozessen. Gleichzeitig wird die Welt immer volatiler. Digitaler Wandel ist längst keine temporäre Erscheinung mehr – er ist die Norm und beschleunigt sich zudem immer mehr. Das alles verlangt von Unternehmen größtmögliche Agilität. Schnelle Veränderungen in Reaktion auf Trends, Entwicklungen und Krisen sind essenziell, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Laut einer aktuellen IDC-Studie zur Digitalisierung betonen 78 % der Entscheider, dass ihr Unternehmenserfolg sehr stark von der Agilität ihrer Geschäftsprozesse abhängt. Ein Ansatzpunkt, um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist eine verbesserte Zusammenarbeit im Entwicklungsprozess. Genau hier kann Model-Based Systems Engineering (MBSE) Unternehmen helfen.

Ganzheitliche Methodik

Systems Engineering verfolgt einen holistischen Ansatz mit dem Ziel, die Produktentwicklung effizienter zu gestalten und die Komplexität überschaubar zu machen. Die zugrundeliegende Idee ist die Verknüpfung aller beteiligten Domänen zu übergreifenden Prozessen – vom Anforderungsmanagement über die Soft- und Hardwareentwicklung bis hin zu Simulation und Test. So kann der gesamte Entwicklungsprozess stets von allen Blickwinkeln betrachtet und die Komplexität besser überblickt werden. Model-Based Systems Engineering setzt dabei auf Modelle, um Informationen nachverfolgbar darzustellen, und ermöglicht digitale Durchgängigkeit entlang des gesamten Produktentwicklungszyklus – ein Faktor, bei dem viele Unternehmen aktuell noch Nachholbedarf haben und den sie auf ihre Agenda zur digitalen Transformation gesetzt haben.

Komplexität im Griff, höhere Qualität, niedrigere Kosten

Mit MBSE lässt sich die übergreifende Kollaboration zwischen den unterschiedlichen Stakeholdern deutlich vereinfachen. Das gilt intern über die verschiedenen Domänen hinweg wie für die externe Zusammenarbeit mit Partnern, Zulieferern und Kunden. So können etwa bei Änderungen Abhängigkeiten leicht identifiziert und Lösungsansätze analysiert werden. Besonders zum Tragen kommen die Vorteile, wenn die Informationen als durchgängiges Datenmodell webbasiert (Cloud oder On-Premise) über den gesamten Produktlebenszyklus zur Verfügung stehen, wie es die „3DExperience“-Plattform von Dassault Systèmes ermöglicht. Können alle Beteiligten zu jedem Zeitpunkt auf dieselben Informationen als Single Source of Truth zugreifen, erleichtert dies die Zusammenarbeit und macht sie deutlich effizienter. Unnötige Iterationen fallen weg, es bleibt mehr Zeit für Verbesserungen und Innovationen.

Nicht unerheblich ist zudem der Kostenfaktor beim Testen: Durch die Verknüpfung der Daten ermöglicht MBSE Simulationen über verschiedene Domänen hinweg bis zu einer kompletten Systemsimulation. Physische Prototypen sind meist sehr kostspielig, unflexibel und nicht immer zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung verfügbar. Stattdessen fungieren hier digitale Zwillinge in Form von Modellen als virtuelle Prototypen zur Bewertung des Systems mittels simulationsbasierter Analysen. Systems Engineering kann Produktentstehungsprozesse somit auch kostenseitig optimieren – und verhilft Unternehmen letztlich zu mehr Wettbewerbsfähigkeit.

Model-Based Systems Engineering wird zum Kernelement der Produktentwicklung – und damit zum integralen Bestandteil der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Quelle: iStock 899415848, Tolgart

Voraussetzungen für eine erfolgreiche Einführung

MBSE ist längst kein industriespezifischer Trend mehr. Vorreiter, die bereits seit vielen Jahren einen entsprechenden Ansatz verfolgen, waren beispielsweise die Automobilindustrie, die Luft- und Raumfahrt sowie das Militärwesen. Anfänglich ging es sehr häufig um komplexe sicherheitsrelevante Applikationen. Heute ist das Einsatzgebiet von Systems Engineering deutlich breiter. Zugleich hat jedes Unternehmen unterschiedliche Bedarfe. Daher sind einige Vorüberlegungen nötig, um zu entscheiden, in welchem Umfang eine Implementierung von MBSE zielführend ist. Schließlich handelt es sich um ein umfangreiches digitales Transformationsvorhaben, das genau auf die jeweiligen Anforderungen zugeschnitten sein sollte.

Welche Aspekte des Entwicklungsprozesses und welche Rollen sind in erster Linie betroffen? Wie weit ist die Digitalisierung im eigenen Unternehmen, bei Zulieferern und in der gesamten Wertschöpfungskette bereits fortgeschritten? Sind diese Fragen hinreichend beantwortet, braucht es vor allem Investment und Unterstützung von Seiten des Managements. MBSE ist die kulturelle Transformation eines Unternehmens, den Systemgedanken und die übergreifende Kollaboration im gesamten Produktentstehungsprozess und eventuell darüber hinaus zu etablieren. Dieser kulturelle Wandel erfordert es, die Mitarbeiter und externen Partner eines Unternehmens Schritt für Schritt in die Transformation zu integrieren und ihnen immer wieder die Mehrwerte aufzuzeigen. Nur wenn die Begeisterung für das Transformationsvorhaben aufrechterhalten wird, kann der Change gelingen.

Einfacher Datenaustausch dank Normen und Standards

Weil MBSE immer flächendeckender und über alle Industrien hinweg Anwendung findet, hilft ein einheitliches Regelwerk. Normen und Standards stellen sicher, dass auch die Kontinuität und Kollaboration zwischen unterschiedlichen Tools von verschiedenen Anbietern funktioniert. Eines der derzeit beliebtesten Hilfsmittel ist die Systems Modeling Language (SysML), die durch die „Catia Magic“-Produkte von Dassault unterstützt wird. Die Modellierungssprache für die Spezifikation von Systemarchitekturen wird industrieübergreifend eingesetzt. Das bringt weitere Vorteile mit sich: Standards vereinfachen nicht nur den Datenaustausch im und zwischen Unternehmen, sie erleichtern auch das Recruiting. Nutzen viele Fachkräfte den gleichen etablierten Standard, sind potenzielle neue Mitarbeitende leichter zu finden.

Wie MBSE Nachhaltigkeit schafft

Die Bedeutung von Systems Engineering wird in Zukunft weiter zunehmen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es Megatrends wie das Thema Nachhaltigkeit positiv beeinflussen kann. MBSE hilft dabei, Produkte, aber auch den Entwicklungsprozess selbst, nachhaltiger zu gestalten. Ein Beispiel zeigte Dassault Systèmes gemeinsam mit Partnern auf der Hannover Messe 2022. Der Showcase bildete die komplette, durchgängig digitale Wertschöpfungskette einer Produktionsanlage für Wasserstoff-Brennstoffzellen ab. Ziel war es, den elektrischen Stromverbrauch der Anlage für den Stacking Prozess zu minimieren. Mithilfe von Systems Engineering konnten die Optimierungspotenziale identifiziert und in einem nachgelagerten Schritt die Optimierung durchgeführt werden. Dies führte zu einer Reduzierung von 4 % beim elektrischen Stromverbrauch.

Trends und Anwendungsszenarien

Bei vielen Produkten dominieren heute Elektronik sowie Software die Entwicklung und das Kundenerlebnis. Die Softwareentwicklung mit ihren spezifischen Anforderungen und agilen (Projektmanagement-)Methoden muss daher künftig noch stärker in ein übergreifendes Systems Engineering einbezogen werden. Ein weiterer Trend betrifft die Vernetzung von Systemen beziehungsweise ihre Verknüpfung zu komplexeren Systemen. Model-Based Systems Engineering kann Antworten auf viele aktuelle und künftige Herausforderungen liefern. Während es in einigen Industrien schon heute unersetzlich ist, wird es in naher Zukunft auch industrieübergreifend nicht mehr ohne gehen. MBSE wird so zum Kernelement der Produktentwicklung – und zum integralen Bestandteil der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen.

Autor: Thorsten Gerke, Cyber Systems Industry Process Senior Consultant bei Dassault Systèmes

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