20.04.2021 – Kategorie: Digitalisierung

Digitaler Zwilling: Die Veränderungen im Leben einer Industrieanlage

Digitaler ZwillingQuelle: Aucotec AG

Ein digitaler Zwilling spiegelt die Realität, so die Idee. Und wie ein Spiegel nur das sichtbare Äußere zeigt, wurde auch der Begriff Digital Twin ursprünglich verstanden. Wenn aber Goethe schon den Pflanzen zuschrieb, dass ihr Äußeres nur die Hälfte ihrer Wirklichkeit sei, dann gilt das für Anlagen im Zeitalter von Industrie 4.0 erst recht. Ihr Zwilling muss also viel mehr als nur Äußerlichkeiten abbilden.

Im Engineering existiert ja zunächst nur die digitale Realität. Ist die Anlage gebaut, wird das ursprüngliche Original zum Abbild. Doch es ist nicht selbstverständlich, dass die Zwillinge Ebenbilder bleiben bis ans Ende ihrer Tage. Tatsächlich wird die Aktualisierung oft sträflich vernachlässigt. Mit jeder nicht nachgetragenen Reparatur oder Anlagen-Optimierung ähneln sich digitaler Zwilling und Bestandsanalage immer weniger.

Deshalb müsse im Lebenszyklus der Anlage mit all ihren Veränderungen der digitale Zwilling parallel lebendig bleiben, mitwachsen und -reifen, um den enormen Schatz an Anlagen-Wissen z. B. für Analysen, KI-Einsatz oder Störfälle sofort parat zu haben. Diese Lebendigkeit, die Fähigkeit zum Wachsen und als Gedächtnis der Anlage zu dienen, macht die Seele und den besonderen Wert des digitalen Zwillings aus.

Halbe Wirklichkeit – doppelte Arbeit

Entscheidend ist, dass digitaler Zwilling bzw. das Anlagenmodell disziplinübergreifend die gesamte Anlage repräsentiert. Nur den Armen oder einem Bauch lässt sich keine Seele einhauchen. Solche nicht eigenständig lebensfähigen Teilaspekte von Anlagen entstehen durch Ketten mit Spezialtools, die disziplinspezifisch etwa nur P&IDs mit Behältern, Rohren und Flanschen oder nur das Elektrikmodell samt Verkabelung repräsentieren.

Doch ein Tank mit Sensor und Pumpe, ohne dazugehörigen Loop und ohne das Wissen, ab und bis zu welchem Wert die Pumpe arbeiten soll, zeigt nur die halbe Wirklichkeit. Und die macht doppelt so viel Arbeit, beim Planen wie auch später im Betrieb. Denn in einer Toolkette muss jedes Fachsystem einzeln mit den unvermeidlichen Änderungen „gefüttert“ werden – und der Service muss mühsam aus verschiedenen Quellen die relevanten Informationen zusammenklauben.

Mit Leib und Seele digital

Deshalb hat die Aucotec AG eine Plattform entwickelt, die mit ihrem universellen Datenmodell alle Kerndisziplinen des Engineerings in einer Single Source of Truth (SSoT) vereint. Das erlaubt fast grenzenlose Kooperation – dank Mehrschichtarchitektur auch clientunabhängig über Webservices von überall. Jedes Objekt gibt es nur einmal in der Datenbank von Engineering Base (EB) und jede Fachrichtung kann sie jederzeit aus ihrer Sicht spezifizieren. Gleichzeitig sieht jeder, was die anderen Disziplinen bereits erarbeitet haben und baut direkt darauf auf.

Auch abstrakte Objekte, sogenannte Interpretationen, die in herkömmlichen Plänen gar nicht auftauchen, kann EB dank SSoT darstellen. Etwa Messtypen zur funktionalen Beschreibung eines Sensors. Damit lässt sich ein Predictive-Maintenance-System automatisiert in die Lage versetzen, Zustandsdaten aus der laufenden Anlage richtig zu interpretieren. Bei Zigtausenden Signalen, die sonst oft händisch bearbeitet werden, ein enormer Zeitgewinn.

Eine weitere Besonderheit von EB-Objekten: Sie sind völlig unabhängig von ihrer Verwendung bearbeitbar, also auch ohne grafische Repräsentanz. Das war eine wichtige Vorgabe für unsere Plattform. Damit ist eine starre Folge von Arbeitsschritten passé, die Fachbereiche können schneller loslegen, parallel engineeren und agil kooperieren. So wachsen Leib und Seele der gesamten Anlage hochdigital zusammen.

Digitaler Zwilling: Quicklebendig

Ein Merkmal, bei dem sich alle Interpretationen von „Seele“ einig sind, ist Lebendigkeit. In EB beginnt das Leben des digitalen Zwillings schon vor der „Geburt“, wenn das System automatisiert Simulationsszenarien vergleicht, um die optimale künftige Anlage zu eruieren. Mit dem ausgewählten Szenario, das die Hauptbestandteile einer Anlage beschreibt, ist die Keimzelle in EB bereits festgelegt. Vom prozesstechnischen Basic Design über e-technisches Detail Engineering bis zur Leitsystem-Konfiguration nimmt nun mit weiteren Objekten nicht nur der Anlagen-Körper, sondern mit immer mehr Eigenschaften, Verknüpfungen und Logiken auch die Seele des Zwillings Gestalt an.

Neben seinem Wachstumspotenzial zeugt auch die Eigenständigkeit des Anlagenmodells von Leben. Wird etwa die Fördermenge der Anlage erhöht, merkt EB sofort, wenn die ursprünglich geplante Pumpe nicht mehr zum Leitungsquerschnitt passt. Das Prinzip heißt Rulebased Design. So kommt, wie durch den Tropfen im Teich, in EB die Änderungswelle ins Rollen. Dabei zeigt Data Tracking den Beteiligten, wo etwas und was genau seit wann neu ist. Ob Antrieb, Flowstream oder Verkabelung, alle Konsequenzen einer Änderung werden automatisch aufgezeigt, weil die Plattform die Zusammenhänge kennt. Sind OPC-UA-fähige Geräte in der Anlage verbaut, können sie sogar direkt mit EB kommunizieren. Ein neuer Sensor meldet seine Existenz dem digitalen Zwilling und EB dokumentiert selbstständig das Ersatzgerät sowie den Austausch.

Ansonsten trägt der Service-Experte über sein mobiles Tablet, auf das er sich den relevanten Teil des digitalen Zwillings gezogen hat, seine Änderungsinformationen direkt am Objekt ein und schickt sie ans Engineering. Auch auf diese Weise wird das aktuelle Gesamtbild der Anlage effizient am Leben erhalten.

Digitaler Zwilling: Operation gelungen

Diese Aktualität spielt ihren Wert besonders bei größeren Umbauten im Betrieb aus. Muss man erst die einzelnen Spezialtools auf den Istzustand der Anlage bringen, kostet das enorm viel Aufwand. Im stets aktuellen EB lässt sich einfach der verlässliche As-built-Stand der betroffenen Teilanlage als Klon extrahieren. Dann wird dieser digitale Teil-Zwilling wieder zur Vorstufe der Realität, die Umbauten entstehen kooperativ wie gehabt und der neue digitale Iststand wird automatisiert in die Gesamtdokumentation integriert. Auch hier zeigt EB sofort, wenn es dabei irgendwo „knirscht“. Fehler fallen vor dem Bau auf, Stillstandszeiten werden minimiert. So gelingt die „Operation“ an der laufenden Anlage – und an ihrem Zwilling gleich mit.

Die ganze Wirklichkeit

Darin zeigt sich erneut die Ebenbürtigkeit und der enorme Wert eines aktuellen Digital Twin samt allem, was nicht auf den ersten Blick sichtbar ist: Funktionen, Verknüpfungen, Interpretationen – die Seele eben, lebendig, lern- und anpassungsfähig, wachsend und eins mit ihren Zwillings-Körpern – dem draußen ebenso wie dem in Objekten, Daten, Plänen und Tabellen. So repräsentiert EB die komplette Wirklichkeit der Anlage.

Digitaler Zwilling

Über den Autor: Reinhard Knapp ist Leiter Global Strategies beim Engineering-Software-Entwickler Aucotec.


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