Digital Twin: den Weg zum Digitalen Produktpass bereiten

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Die Anforderungen an die Nachhaltigkeitszertifizierung steigen; in einigen Jahren ist mit dem Digitalen Produktpass zu rechnen. Die richtigen Daten vorzuhalten, wird im Wettbewerb also immer entscheidender. Unternehmen können sich darauf gut mit dem Datenmodell des Digital Twin vorbereiten.

Die Idee des Digital Twin (DT) stammt ursprünglich aus der Raumfahrt – als virtuelles Abbild von Raumfahrtobjekten, deren Zustand sich physisch nicht überprüfen lässt. Das Konzept ist folglich schon etwas älter, mittlerweile setzt es sich aber auch in der Industrie immer weiter durch. Bosch zum Beispiel zählt zu den Unternehmen, die sich zum digitalen Zwilling als wichtige Technologie rund um die Nachhaltigkeit bekennen und das Thema für sich als Game Changer identifiziert haben.

Zum DT-Konzept gehören drei wesentliche Bestandteile: das physische Produkt im realen Raum, das virtuelle Produkt im digitalen Raum und die Datenverarbeitung, die beide Welten verbindet. Ein digitaler Zwilling kann dabei nicht nur das Abbild von Produkten, sondern auch von Prozessen oder Dienstleistungen sein. In der Prozessindustrie eignet sich das Konzept zudem für Produktionsanlagen und Ausrüstungen.

Sensorik und smart Assets als wichtige Bausteine

Tatsächlich befassen sich bereits viele Unternehmen mit Komponenten, die für den DT wichtig sind, etwa mit Sensorik für die Instandhaltung und (virtuellen) Assistenzsystemen. Mit zunehmend besserer Konnektivität in der Site setzen sich im Bereich Instandhaltung und Sicherheit immer stärker smart Assets durch: klassische Ausrüstungen wie Flansche, Kondensatableiter, Pumpen oder Rohrleitungen, die mit Sensorik ausgestattet sind und ihre Zustandsdaten melden. Im Zusammenspiel mit einer Plattform wie „Microsoft Azure“ als zentralem Daten-Hub und Apps für unterschiedliche Rollen und Aufgabenbereiche rückt so ein digitales Abbild des Standorts näher.

Beim Thema Nachhaltigkeit können solche Technologieplattformen als Basis für den digitalen Zwilling dienen. Denn ab 2026 werden auch Mittelständler ab 250 Mitarbeitenden mit der „Corporate Sustainability Reporting Directive“ (CSRD) der EU dazu verpflichtet, neue Vorgaben an das Nachhaltigkeitsreporting und die Kreislaufwirtschaft zu erfüllen. Derzeit wird zudem an der Definition des Digitalen Produktpasses gearbeitet. Sehr wahrscheinlich wird der Digitale Batteriepass, der schon weiter fortgeschritten ist, dafür zu einer Blaupause. Über den Lebenszyklus hinweg sollten künftig Daten verfügbar sein, die Aufschluss über den Zustand von Produkten und Materialien geben und die Wiederverwertung oder das Recycling erleichtern.

Disparate Systeme verbinden

Die Praxis ist durch eine Vielzahl von Insellösungen gekennzeichnet. Dazu gehören auch die Ebene der digitalen Leitsysteme in der Produktion, die Prozesssteuerungswelt oder ERP-Systeme. Beim Konsolidieren von Nachhaltigkeitsinformationen führt das derzeit zu einem umfangreichen manuellen Aufwand: Künftig muss beispielsweise klar sein, welcher Prozessschritt wie viel Energie verbraucht. Es sollen Informationen über die Herkunft von Rohstoffen und verwendeten Materialien ebenso bereitstehen wie Hinweise, welche Komponenten recycelt oder wiederverwertet werden können.

Aktuell sind Datenkreisläufe über den klassischen Lebenszyklus von Anlagen und Ausrüstung hinweg immer wieder unterbrochen. Zwar wird im Engineering mit digitalen Werkzeugen gearbeitet, dennoch sind die Herstellerinformationen etwa zu Ausrüstungen im Feld oft nur noch auf dem Papier vorhanden. In der Digitalisierung der Brownfield-Umgebung oder der Baustelle baut dann jeder Betreiber seine eigene digitale Informationswelt auf.

Alle Lebenszyklusdaten in einem Datenmodell

Die EU setzt mit der neuen Gesetzgebung verstärkt darauf, dass ein durchgängiger Informationskreislauf über den Produktlebenszyklus entsteht: Das eigentliche Ziel des Digitalen Produktpasses ist also im Grunde eine bessere Kommunikation zwischen Herstellern, Betreibern, Instandhaltern und Recyclingunternehmen. Der EU Data Act wird dann voraussichtlich regeln, auf welche Daten es dabei künftig ankommt und wie mit ihnen umgegangen werden muss.

Unternehmen in der Prozessindustrie stecken bereits viel Aufwand in die Digitalisierung ihrer Assets, etwa durch Retrofit. Sinnvoller wäre es jedoch, wenn alle Daten aus dem Lebenszyklus von Ausrüstung, Maschinen und Anlagen von Anfang an in einen digitalen Zwilling fließen, der dann in der Betriebsphase um aktuelle IoT-Daten ergänzt würde. Deshalb sollte stärker darauf geachtet werden, dass die Lieferanten aus dem Maschinen- und Anlagenbau ihre Daten aus Datenblättern und von Erstabnahmen auf dem Prüfstand digital übergeben – und möglichst schon ausreichend Sensorik mitgeliefert wird. Besonders wünschenswert ist es, dass die Lieferanten von Ausrüstung ihre Daten schon als erste in der Kette in ein DT-Datenmodell einspeisen.

Massive CO2-Einsparungspotenziale

In Industriestandorten kommt ein hohes Maß an Ausrüstung zum Einsatz, die mit Motoren oder Rotating Equipment ausgestattet ist und besonders viel Strom verbraucht. Auch prozessrelevante Ausrüstungen wie Wärmetauscher sind energieintensiv. Der Druck, den CO2-Footprint zu verringern, wird unweigerlich dazu führen, dass sich das Augenmerk auch auf diesen Bereich richtet. Hier ergibt sich ein erhebliches CO2-Einsparpotenzial, und die Betreiber von Maschinen und Anlagen werden von ihren Lieferanten echte Anstrengungen erwarten. Studien belegen, dass zum Beispiel Pumpen vielfach überdimensioniert ausgelegt werden. Zugleich sind sie innerhalb der EU der größte Einzelverbraucher von Strom in der Industrie. Doch um die Nachhaltigkeit und die richtige Dimensionierung Ausrüstung prüfen zu können, müssen alle Daten aus dem Produktlebenszyklus zusammenkommen.

Digitaler Zwilling als Cloudservice

Auf der Basis einer digitalen Plattform lassen sich einerseits die heute getrennten Welten des Digital Engineering, der Prozessleitsysteme und der Prozesssimulation ebenso integrieren wie kaufmännischen ERP-Systeme und die Sensorik für Life-Cycle-Daten. Andererseits kann hier der DT auf Basis des Clouddienstes „Microsoft Azure Digital Twin“ ansetzen. Die Plattform ist in der Lage, beliebige Datenvolumen aus unterschiedlichsten Quellen aufzunehmen und zu verwalten. Die wohl wichtigsten Vorteile der Azure-Welt sind die offene Architektur und der hohe Integrationsgrad. Für die Analytik stehen kognitive KI-Services zur Verfügung. Mit der „Digital Twin Definition Language“ von Microsoft lässt sich jedes beliebige physische Objekt beschreiben – nicht zuletzt aus Nachhaltigkeitssicht. Aus dem Modellgraph auf der Plattform können dann verschiedenste digitale Zwillinge erzeugt werden, die unterschiedlich zusammenwirken können. Damit lassen sich vergleichsweise einfach digitale Abbilder von physischen Umgebungen wie Anlagen, Maschinen oder Gebäuden sowie anderen Assets erstellen und managen. Wenn im Brownfield-Umfeld Digitalisierungsvorhaben angegangen werden, sollte der digitale Zwilling als Nachhaltigkeits-Enabler künftig nicht fehlen.

Autor: Udo Ramin, Director of Competence Center Industry 4.0 & IoT bei der Cosmo Consult Group

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